Beobachtet wurde dieses sozial-psychologische Phänomen bereits 1907 von Frederic L. Wells. Namentlich eingeführt hat ihn später der amerikanische Verhaltensforscher Edward Lee Thorndike. Kurz gesagt beschreibt der Halo-Effekt einen Wahrnehmungsfehler, eine unbewusste Störung unserer Urteilskraft, bei der einzelne Eigenschaften (Attraktivität, Behinderung, außergewöhnliche Erfolge) einer Person so dominant auf uns wirken, dass sie einen überstrahlenden Gesamteindruck erzeugen – deshalb auch „Halo“ (englisch für Heiligenschein) Effekt. In der Sozialpsychologie spricht man dabei auch von einer kognitiven Verzerrung.
Wem das zu abstrakt war – hier ein Beispiel: Stellen Sie sich einen Menschen mit auffallend guten Umgangsformen vor… Voilà, vermutlich geht bei Ihnen jetzt schon das Kopfkino los: Sie assoziieren gepflegtes, adrettes Aussehen, Eloquenz, Charme und noch ein paar weitere positive Merkmale. Oder anders ausgedrückt: Eine einzige markante Eigenschaft (gute Manieren) lässt uns auf andere unbekannte Eigenschaften schließen. Wer sich so benimmt, muss einfach ein guter und sympathischer Mensch sein… Muss er oder sie aber eben gar nicht. Vielleicht ist die Masche nur Mittel zum Zweck.
Wahrnehmungsfehler: Warum machen wir das überhaupt?
Kurz gesagt: Weil wir es können. Und weil wir es müssen. Jeden Tag, jede Sekunde erfassen unsere Sinn Unmengen an Reizen und Informationen. Würden wir diese nicht filtern, sondern alle bewusst wahrnehmen und analysieren, würden wir längst wahnsinnig werden. Also trennt unser Gehirn aus Faulheit und Effizienzgründen Wichtiges von Unwichtigem bevor ihm der Kopf platzt. Stereotype, Klischees, Schemata und Denkmuster helfen ihm dabei enorm, denn sie vereinfachen die Verarbeitung der Informationen. Das Ergebnis ist Schubladendenken.
Der Haken daran: Wir sehen die Welt dabei eben nicht, wie sie wirklich ist, sondern wie wir sind und unser Kopf arbeitet. Beobachtungen, Erfahrungen, Interpretationen und Vorurteile prägen so entscheidend unsere Wahrnehmung von der Wirklichkeit – es ist aber nicht die Wirklichkeit.
Artverwandte Wahrnehmungs-Effekte und Beurteilungsfehler sind zum Beispiel…
• Similar to Me Effekt – Wer uns ähnlich ist, den finden wir auf Anhieb sympathischer.
• Primacy Effekt – Der erste Eindruck ist so prägend, dass wir noch lange an ihm festhalten, obwohl es längst gegenteilige Signale gibt.
• Nikolaus Effekt – Die letzten Eindrücke bleiben besonders lange haften und hallen bei Beurteilungen nach (auch Recency Effekt genannt).
• Pygmalion Effekt – Um die Richtigkeit unseres Urteils zu bestätigen, fördern wir unbewusst die dazu nötige Entwicklung. Oder anders: Wer sich selbst mehr zutraut, wird tatsächlich besser.
• Andorra Effekt – Wie im Roman von Max Fritsch wird die Prognose des Beurteilenden zu einer Selbsterfüllenden Prophezeiung.
• Kleber Effekt – Nicht beförderte Mitarbeiter werden zunehmend unterschätzt und schlechter bewertet.
• Hierarchie Effekt – Je höher jemand in der Hierarchie eingeordnet wird, desto eher werden ihm bessere Eigenschaften gegenüber der Belegschaft unterstellt.
• Lorbeer Effekt – Aufgrund in der Vergangenheit erreichter Erfolge, wird der Person unterstellt, auch aktuell erfolgreich sein zu müssen.
• Benjamin Franklin Effekt – Wenn wir jemanden überreden, uns einen Gefallen zu tun, werden wir ihm dadurch sympathischer.
Die Wirkung des Halo-Effekts
Zum Halo-Effekt gibt es inzwischen ein ganzes Füllhorn an psychologischen Experimenten. Oft geht es dabei um Einschätzungen zur Intelligenz, zur Vertrauenswürdigkeit, zum Charakter oder zu Führungsqualitäten von Personen. Und immer wieder lassen sich die Probanden von Oberflächlichkeiten blenden:
• Wer zum Beispiel besonders dick ist, wird häufig und vor allem über seinen Körperumfang wahrgenommen – und steht damit sofort im Generalverdacht maßlos, faul, willensschwach oder gar dumm zu sein.
• Umgekehrt wird zum Beispiel Bodybuildern unterstellt, dass sie aufgrund der definierten Muskeln besonders fit oder gar sportlich wären. Mit tatsächlicher Kondition muss das aber gar nichts zu tun haben.
• Schüler mit Brille wiederum wirken auf zahlreiche Lehrer belesener, wenn nicht gar intelligenter.
• Personaler stellen ungern Mitarbeiter aufgrund eines lückenhaften Lebenslaufs ein – obwohl die durchaus die spannenderen Persönlichkeiten und innovativen Querdenker sein können.
• Und selbst Blondinen-Witze sind nichts weiter als das pointierte Eingeständnis, dass sich Klischees hartnäckiger sein können als jede Realität. Schließlich sind die meisten Blondinen überhaupt keine echten Blondinen.
Und natürlich spielen auch die Hollywood-Stars perfekt mit dem sogenannten Übertragungsphänomen: Weil viele Schauspieler überdurch-schnittlich attraktiv sind und auf die eine oder andere Art Helden verkörpern, denken ihre Fans, sie seien auch im realen Leben schlagfertige, glamouröse und durchweg liebenswürdige Übermenschen. Sind sie aber nicht. Jedenfalls nicht alle. So manch hochbezahlte Leinwandgröße kann ein dümmlicher Charakterzwerg sein, der nicht einmal einen geraden Satz aussprechen kann, solange kein anderer diesen für ihn schreibt.
Die Wucht, die der Halo-Effekt entwickelt, ist derart groß, dass ganze Wirtschaftszweige ohne ihn kaum existieren könnten:
• Die Kosmetikindustrie zum Beispiel wäre ohne den Halo-Effekt praktisch pleite.
• Ähnlich verhält es sich mit der Modebranche: Mittels Halo-Hilfe verwandelt sich eine simple in China für ein paar Cent zusammengeschneiderte Jeans binnen Sekunden in ein 200 Euro kostbares Must-have-Accessoire – solange sie nur am Körper eines angesagten Supermodels prangt.
• Und auch der Käufer nutzt am Ende den Halo-Effekt quasi en passant: Mittels Markenstrahlkraft demonstriert er oder sie: „Sieh her, weil ich eine solche Hose trage, bin ich ebenfalls attraktiv, hip und irgendwie besser als jeder Billighosenträger.“
Irren ist menschlich. Ganz besonders aber irren wir uns in anderen. Das eigentlich fiese an dem Halo-Effekt ist allerdings, dass wir diese Fehlein-schätzungen kaum abstellen können. Wir können seine Funktionsweise intellektuell noch so sehr begriffen und verinnerlicht haben – beim nächsten Mal trübt er doch wieder unser Urteilsvermögen. Die Enttäuschung im Wortsinn ist also beim Halo-Effekt programmiert.
Gegenmaßnahmen zum Halo-Effekt gibt es nicht
Never judge a book by its cover – beurteile ein Buch niemals nach seinem Umschlag, lautet zwar ein kluges Bonmot. Wir machen es aber trotz-dem ständig. Bei Büchern genauso wie bei Menschen.
Als Gegenmaßnahmen und Mittel für eine möglichst objektive Beurteilung empfehlen Experten zwar, die eigene Wahrnehmung zu sensibilisieren, mehr Selbstreflexion und zum Beispiel die Merkmale einer Person jeweils einzeln zu beurteilen und eben nicht von einem überstrahlen Merkmal auf andere oder irgendeinen Gesamteindruck zu schließen. Auch das Mehr-Augen-Prinzip kann helfen, die Wirkung des Halo-Effekts zu minimieren. Gänzlich ausschließen lassen sich die Fehler in unserer Wahrnehmung dadurch aber nicht. So werden die meisten Menschen auch weiterhin finden, dass Coca-Cola besser schmeckt als Aldi-Cola, obwohl sich bei Blindtests kaum Unterschiede feststellen lassen. Und auch Politiker werden, speziell vor Wahlen, versuchen ausnehmend freundlich, offen und nett zu wirken, um ihre Wähler glauben zu machen, dass so jemand auch ein substanzielles Programm haben muss.
Umgekehrt können wir nicht verhindern, dass uns andere binnen Sekunden in eine Schublade stecken und beispielweise von unserer Frisur auf unsere Stimmung schließen oder von der Körbchengröße auf den Intellekt. Aber NUTZE den Effekt, statt ihn zu verurteilen!
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