Viel zu oft malen wir die Welt schwarz-weiß an. Ziehen Trennlinien mit blutig-scharfen Kanten, wo eigentlich gar keine hingehören. Unterteilen in „das ist männlich“ und „das ist weiblich“. In gut und böse. In schön und hässlich. In Arschlöcher und Heilige.
Dasselbe gilt auch für die Extra- und Introvertierten. Keine Ahnung, wie oft ich mich schon gefragt habe, zu welchem dieser beiden Lager ich wohl gehöre. An den entsprechenden Tests, die ich in der Brigitte oder Galafand und bei Prosecco und Kerzenlicht zu lösen versuchte, scheiterte ich meistens. Entweder ich konnte sie gar nicht beantworten. Oder das Ergebnis war jedes Mal ein anderes.
Vermutlich lag das nicht an mir. Es lag an den Tests. Am Schwarz-Weißen.
„Es gibt niemanden, der vollkommen introvertiert oder extravertiert ist. Ein solcher Mensch wäre im Irrenhaus“, sagte C.G. Jung, der nicht nur diese zwei Begriffe geprägt hat, sondern auch einen dritten, heute nahezu vergessenen.
Ambivertiert.
Ambivertiert – Der häufigste Persönlichkeitstyp
Adam Grant von der Wharton Uni studierte zuletzt dieses Phänomen und fand heraus: Etwa zwei Drittel aller Menschen können sich weder klar als intro- noch als extravertiert identifizieren. Sie haben beide Tendenzen. Wie sie denken, fühlen und handeln, kann sich sehr stark unterscheiden, abhängig von der jeweiligen Situation.
Extraversion und Introversion meinen im Kern, ob jemand eher nach innen orientiert ist oder nach außen. Seine eigenen Gedanken und Gefühle oder das, was um ihn herum passiert. Der Rückzug bzw. die Besinnung auf wenige, tiefe Kontakte, oder das Aufblühen in der großen, gern auch wechselnden Gruppe.
Wie sozial, das heißt nach außen orientiert ein Mensch (aktuell) ist, hängt Forschern zufolge zu einem großen Teil von Dopamin, dem Wohlfühl-Hormon im Gehirn ab. Das Gehirn von Introvertierten braucht weniger Dopamin, um stark stimuliert zu sein. Soziale Situationen überfordern und stressen dann schneller. Extravertierte sind tendenziell eher unterstimuliert und dadurch gelang-weilt, also müssen sie die Dopamin-Produktion durch Adrenalin ankurbeln. Zum Beispiel, indem sie auf eine Party gehen.
Im Extrem treten die beiden Pole in der Realität kaum auf. Niemand ist so extravertiert, dass er den ganzen Tag nackt draußen rumrennen und Leute anquatschen will, um wenigstens ein bisschen stimuliert zu sein. Und ich kenne auch keinen Introvertierten, den schon Blickkontakt mit einem an-deren so übererregt, dass er Sex höchstens von hinten haben kann.
Vor allem aber sind die Dopamin-Level eben nichts Fixes. Gerade den Ambivertierten, deren Gehirne „mittelviel“ Anreiz bis zur Erregung brauchen, ist deshalb manchmal eher nach Geselligkeit und manchmal nach Alleinsein.
Bist Du ambivertiert?
Hier zwölf Anzeichen, dass Du ambivertiert bist. Sie basieren unter anderem auf der Arbeit von Dr. Travis Bradberry, Autor des Buchs Emotional Intelligence 2.0:
- Im sozialen Leben fühlst Du Dich nicht unwohl, aber zu viel Zeit unter Menschen ermüdet Dich.
- Du stehst gern mal im Mittelpunkt … aber dort stehen bleiben willst Du nicht.
- Du kannst Aufgaben allein oder in einer Gruppe lösen, da hast Du keine starke Präferenz.
- Manche Menschen halten Dich für introvertiert, andere für extravertiert.
- Wenn man Dich fragt, ob Du lieber Party machst oder ein Buch liest, antwortest Du: Kommt drauf an.
- Du kannst Dich in Deinen Gedanken verlieren, aber auch in einem guten Gespräch.
- Small Talk bringt Dich nicht zur Verzweiflung, ödet Dich aber bald an.
- Manchen Menschen, die Du kennen lernst, öffnest Du Dich recht schnell vertrauensvoll, bei anderen schmilzt das Eis sehr, sehr langsam (wenn überhaupt).
- Du kannst überzeugend sein und für Dich und Deine Ideen eintreten, aber auch beobachten und an-deren aufmerksam zuhören, Dich in sie hineindenken und -fühlen.
- Du redest gern, willst aber vorher drüber nachgedacht haben.
- Du bist gern mit anderen zusammen – wenn Du sie kennst.
- Wenn Du zu lange Zeit allein bist, fällt Dir die Decke auf den Kopf; zu viel draußen und Dir ist nach einem Rückzug ins Schneckenhaus. Manchmal kippt Deine Stimmung sehr schnell von aufgedreht zu still.
Die Vorteile ambivertierter Menschen: Sie finden sich in beiden Welten zurecht, können sich an beiden erfreuen. Sie sind introvertiert genug, um Informationen in Ruhe zu verarbeiten. Und extravertiert genug, um ihre Erkenntnisse nach außen zu tragen, ohne sich dabei abzunutzen.
Doch so oder so, „ambivertiert“ ist eine Erinnerung daran, dass es mehr gibt als schwarz und weiß. Dass wir uns nicht unnötigerweise allzu eng selbst definieren und in Schubladen quetschen sollten.
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