Impulse aus dem Impro-Theater

 

E ine Gruppe von Personen plant nicht voraus, sondern agiert spontan angesichts immer neuer Herausforderungen. Die Mitglieder verlassen sich aufeinander, treffen selbstorganisiert Entscheidungen, mal gibt der eine den Ton an, mal die andere und wenn etwas nicht klappt, dann wird nicht lamentiert, sondern sofort etwas anderes ausprobiert.

 

Was ist das? Wer an ein agiles Team denkt, hat natürlich recht. Es gibt aber noch eine weitere Antwort, die auf ein ganz anderes Metier verweist, aber genauso stimmt: eine Gruppe von Improvisationskünstlern. Tatsächlich leisten Impro-Künstlerinnen und -Künstler schon seit Tausenden von Jahren (das Improvisationstheater hat seine nachweislichen Ursprünge im antiken Griechenland), was von Teams in jüngster Zeit zunehmend gefordert ist: Sie bewegen sich sicher durch eine von Unsicherheit geprägte Umwelt, indem sie sich permanent an neue Begebenheiten anpassen. Das gelingt ihnen aus einer (agilen) Haltung heraus, die auf fünf Prinzipien basiert.

 

Diese Prinzipien sind in der Improvisationskunst handlungsleitend und waren das wahrscheinlich so oder ähnlich auch schon auf den antiken griechischen Bühnen. Um ins „agile Spiel“ zu finden, sind diese bewährten Prinzipien auch für moderne Arbeitsteams enorm hilfreich. Ein großer Pluspunkt: Sie sind einfach und folglich gut einprägsam, so geben sie Orientierung und Sicherheit. Ein weiterer: Es gibt gute Übungen, um sie zu internalisieren – natürlich aus dem Impro-Theater.

 

Heiter scheitern

 

Die Impulse für Szenen kommen beim Impro-Theater meist auf Zuruf des Publikums. Bei einer Aufführung vor Kurzem wünschte es sich zum Beispiel eine Szene auf dem Mars, dort sollte ein Astronaut auf Gott treffen. Die zwei Improvisateure hatten fünf Sekunden Zeit, um sich einen Einstieg zu überlegen – so lange wie es dauerte, vom Publikum eingezählt zu werden („5, 4, 3, 2, 1 – los!“). Beide nahmen sich vor, Gott zu spielen, was der andere jeweils nicht wusste. Die Szene begann, einer der beiden Künstler outete sich direkt als Gott, die andere war ob der Offenbarung ... erst mal sprachlos. Ihr fiel nichts anderes ein, als zu sagen: „Aber ich bin doch Gott!“ Das Publikum lachte und auch die Improvisateure konnten sich ein Lachen nicht ganz verkneifen. Nach einer kurzen Atempause entspann sich dann eine Geschichte über eine Astronautin mit Gottkomplex. Diese begegnete dem antiken Kriegergott Mars, und die beiden stritten darüber, was mächtiger sei: technischer Fortschritt oder Zerstörung.

 

Kurze Hänger oder auch einmal ein kleiner Blackout sind im Impro-Theater normal und gehören zum Spiel auf komplett unbekanntem Terrain dazu. Entscheidend ist, dass die Künstlerinnen und Künstler keine Angst davor haben. Bevor es an die Szenenarbeit geht, üben sie daher in der Regel das „heitere Scheitern“, wie es im Impro heißt. Etwa mit Aufwärmspielen, die kognitiv oder motorisch so anspruchsvoll Fehler machen. So erfahren die Spielerinnen und Spieler (immer wieder aufs Neue), dass Scheitern dazugehört, von der Gruppe akzeptiert wird, sich niemand blamieren kann und man am besten damit fährt, wenn man es mit Humor nimmt.

 

Fürs Leitprinzip auf der Impro-Bühne mag „Heiter scheitern“ ja prima sein, könnte man an dieser Stelle denken, aber für den Arbeitskontext? Ist es da nicht eher unangebracht, sogar gänzlich unpassend – schließlich ist Arbeit keine Unterhaltung und erst recht kein Witz? Natürlich nicht, aber Scheitern mit Heiterkeit zu begegnen, bedeutet nicht, die eigene Arbeit auf die leichte Schulter zu nehmen. Jedes Scheitern hat etwas Groteskes und mithin etwas Witziges. Das Prinzip legt nahe, den Fokus auf diese Seite des Scheiterns zu legen, ohne mögliche ernsthafte Folgen auszublenden.

 

Das macht aus mehreren Gründen Sinn: Erstens nimmt es Beschäftigten – genauso wie Impro-Künstlern – die Angst vor Fehlern, wodurch sie nicht nur eher bereit sind, Dinge auszuprobieren, sondern tatsächlich weniger Fehler machen. Denn letztlich ist es oft gerade die Angst vor Fehlern, die einen so verkrampfen lässt und so viele kognitive Ressourcen verbraucht, dass Fehler passieren. Zweitens wirkt Heiterkeit Schuldgefühlen und „Warum-habe-ich nur“- und „Wenn ich doch nur ...“-Denkkaskaden entgegen, die bis hin zu Blockaden führen können: Das gesamte Denken kreist nur noch ums eigene Scheitern. Und drittens werden Mitglieder in Teams, die „heiter scheitern“, ihre Fehler nicht verstecken, was es erlaubt,

aus ihnen gemeinsam zu lernen.

 

Nimm die erste Idee

 

Gerade für Neulinge ist der größte Schreckmoment beim Impro-Theater: der Anfang. Was, wenn mir nichts „Gutes“ einfällt? In solchen Situationen hilft die zweite Impro-Regel: „Nimm die erste Idee.“ Diese muss nicht besonders originell sein. Oftmals ergeben sich die lustigsten Szenen aus einfachen Impulsen. Erfahrene Improvisateure haben deswegen keine Angst vor der leeren Bühne, sie verlassen sich darauf, dass immer etwas Interessantes passiert. Die spannendsten Geschichten basieren nicht auf genialen Geistesblitzen Einzelner, sondern entstehen Stück für Stück in der Interaktion. Im Team im Unternehmen lässt sich das Prinzip „Nimm die erste Idee“ nutzen, um dem typischem Umsetzungsstau entgegenzuwirken und (mehr) iterative Veränderung zu initiieren. Denn selbst in agil aufgestellten Einheiten werden Ideen allzu oft zerredet, statt ihnen eine Chance zu geben.

 

Die Umsetzung dieses Prinzips könnte etwa so aussehen: Zunächst wird Raum für (erste) Ideen geschaffen, zum Beispiel durch regelmäßige Abfragen im Teammeeting. Dann muss das Team entscheiden: Ist ein Vorhaben „gut genug für jetzt (good enough for now)“ und ist es „sicher genug, um es zu versuchen (safe enough to try)“? Eine Widerstands- statt einer Zustimmungsabfrage hilft bei der Entscheidungsfindung: Spricht nichts Gravierendes gegen einen Vorschlag, steht der Umsetzung weniger im Weg, als wenn die Idee von Anfang an alle begeistern muss. Gibt es Widerstände im Team, können diese bearbeitet werden und die erste Idee wandelt sich entsprechend. Findet die Ideengeberin dann noch Unterstützer für eine Pilotphase, geht es an die Umsetzung.

 

In diesem Prozess zeigt sich dann, ob eine Idee praktikabel ist und Chancen hat, sich durchzusetzen. Wenn nicht: weg damit. Das Charmante ist, dass sich im Prozess die erste Idee häufig zu etwas ganz anderem wandelt. Denn im Gegensatz zu akribisch ausgearbeiteten Vorhaben sind erste Ideen in der Regel deutlich flexibler. Niemand verkämpft sich für eine strikte Planeinhaltung, weil er oder sie Wochen oder gar Monate an diesem Plan gearbeitet hat. Wie beim Impro-Theater lassen sich Teams also auf einen Prozess mit offenem Ergebnis ein, wenn sie ihren ersten Ideen folgen.

 

Dass erste Ideen oft weiter führen als zweite, dritte oder 27ste Ideen und Vorhaben, die nach stundenlanger Diskussion oder ewigem Grübeln entstehen, liegt neben ihrer im besten Sinne des Wortes gemeinten Biegsamkeit auch daran, dass sie oft vergleichsweise einfach und damit gut nachvollziehbar und anschlussfähig sind. Sie bieten sich geradezu zum Weiterdenken an. Zudem sind sie häufig eben auch einfach gut: Denn erste Ideen werden uns von unserem Unterbewusstsein souffliert – einem riesigen Erfahrungsschatz, auf den wir bewusst keinen Zugriff haben. Ja, und ...! Improvisation ist ein Teamsport, bei dem es darauf ankommt, sich gegenseitig die Bälle zuzuspielen. Damit das gelingt, gibt es im Impro die Regel: Ideen der anderen grundsätzlich annehmen („Ja ...“) und darauf aufbauen („... und!“). Geschieht das nicht – werden also die Ideen der anderen abgeblockt – findet keine Entwicklung auf der Bühne statt, die Ideen versanden, und es entsteht keine kohärente Geschichte. Lassen sich die Spielerinnen und Spieler dagegen auf die Impulse der anderen ein und spinnen die Geschichte spontan weiter, entwickelt sich die Anfangsidee auf kuriose, lustige und überraschende Weise weiter. So entsteht etwas neues Drittes, das keiner der Einzelspieler hätte planen können.

 

Dieses Potenzial, das im Zusammenspiel unterschiedlicher Perspektiven steckt – aufgrund seiner individuellen Erfahrungen hat jeder Mensch einen etwas anderen Blick auf die Welt – nennt sich Co-Kreativität. Mithilfe des „Ja, ... und!“-Prinzips als eine Art sprachlicher Routine lässt sich dieses auch im Arbeitsteam nutzen. Ersetzen wir etwa in einem Kreativ- oder Lösungsmeeting ein „Nein“ durch ein „Ja“ und ein „Aber“ durch ein „Und“ – und zwar nicht nur verbal, sondern auch wirklich gedanklich – beziehen wir die Sicht der anderen automatisch mit ein. Dadurch erhalten wir fortlaufend neue Ansatzpunkte fürs Weiterdenken, statt in unserer eigenen „Ideenbox“ zu verharren und uns darauf zu konzentrieren, diese gegen Widerstand und andere Ideen zu verteidigen.

 

Eine gute methodische Umsetzung des „Ja, und ...!“-Prinzips in der Teamarbeit liefert der sogenannte Ideenturm. Nach einem gemeinsamen Brainwriting – alle Teilnehmenden notieren ihre Lösungsansätze zu einer bestimmten Fragestellung auf Zettel, die sie an ein Board heften – schnappt sich jedes Teammitglied die Idee eines anderen, die es besonders inspiriert. Anschließend baut es (zum Beispiel eine Minute lang) eigene Ideen an. Seine „Ausbauskizze“ gibt es dann ans nächste Teammitglied weiter, das wiederum anbauen kann oder, falls es keine Idee dazu hat, eben auch nicht. So geht es im Rotationsverfahren weiter, bis jedes Teammitglied jeden Zettel einmal in der Hand gehabt hat. Oft ragt am Ende ein Turm besonders hoch hinaus, der sich gut zu einer konkreten Lösung oder einem Prototypen ausbauen lässt. Aber auch kleinere Türme können besonderes co-kreatives Potenzial bergen.

 

Fokus

 

Nicht nur aller Anfang ist schwer. Gerade unerfahrene Improvisateure haben oft Probleme, ein Ende für ihre Szene zu finden. Selbst wenn die Spielerinnen und Spieler konsequent auf den Ideen der anderen aufbauen, können Szenen langatmig werden. Eine reine Addition von Ideen ist noch keine packende Geschichte. Dafür braucht es einen klaren Fokus. Am elegantesten ist es, bei der ersten Idee zu bleiben („Nimm die erste Idee“), diese zu steigern („Ja, und ...!“) und die Idee dann rasch zu einem Ende zu führen. Das kann im Impro die Lösung eines Problems sein, das wutentbrannte Abgehen einer Figur, die Moral von der Geschichte oder nach Tradition der antiken Tragödie der Tod der Figuren. Improvisateure können sich das Leben auch einfacher machen, zum Beispiel durch die Vorgabe: Die Szene endet nach zwei Minuten. Wichtig ist die erlösende Geste, wenn der „Vorhang fällt“, dargestellt durch eine schließende Handbewegung einer der Personen auf der Bühne. Dann weiß das Publikum, es ist Zeit für den Applaus – und für eine neue Szene.

 

Auch in Teams heißt Fokus, etwas zu Ende zu bringen. Nur dann können wir zurückblicken und Erfolge feiern oder unser Vorgehen anpassen. In unsicheren Kontexten ist es allerdings gar nicht so leicht, zu erkennen, ob ein Team etwas abgeschlossen hat. Wie können wir ein Ziel erreichen, von dem wir am Anfang noch nicht wissen, was es sein wird, weil das Ergebnis noch offen ist? Und woher wissen wir, wann wir genug experimentiert haben? Ist in agilen Kontexten je etwas fertig, oder befinden wir uns als Team immer im Lernprozess?

 

Diese Fragen sind nicht abschließend zu beantworten, es gibt aber Methoden, wie wir uns Fokus im Team erleichtern. Ähnlich wie im Impro-Theater helfen dabei klare Absprachen, wie Zeitvorgaben und Rituale:

 

Die Szene endet nach zwei Minuten. Die Szene endet, wenn der Vorhang fällt.

 

Die Zauberzutat für Fokus ist eine transparente Kommunikation: Alle Teammitglieder müssen wissen, was das gemeinsame Ziel ist, welche Aufgaben sich davon ableiten und wer was bearbeitet. So gibt es nicht nur einen Teamfokus, sondern auch jedes einzelne Teammitglied ist fokussiert bei der Sache. Dafür ist es oft schon hilfreich, nach jedem Meeting nächste Schritte festzulegen (wer macht was bis wann?) und diese regelmäßig nachzuhalten. Kanban-Boards

können Aufschluss darüber geben, wie weit das Projekt und einzelne Aufgaben fortgeschritten sind. Neben der Abarbeitung verabredeter Aufgaben helfen auch klare Zeitmarken – im agilen Kontext gerne Sprints genannt – die den Moment markieren, wann der Vorhang gelüftet und ein Produkt oder ein Angebot präsentiert wird oder auch, wann der Vorhang fällt und ein Projekt als (vorerst) abgeschlossen gilt.

 

Let your partner shine

 

Das fünfte und wichtigste Prinzip beim Impro heißt „Let your partner shine“, lass deine Mitspieler glänzen. Denn es zählt die Gesamtperformance, nicht brillante Solo-Leistungen. Weiß ein Schauspieler zum Beispiel, dass seine Partnerin gut singen kann, bietet er ihr die Chance für einen Auftritt als Opernsängerin. Weiß seine Partnerin, dass er hinreißende Sterbeszenen spielt, wird sie ihn publikumswirksam erdolchen.

 

In Teams angewendet kann das Prinzip Gold wert sein. Wenn sich die Teammitglieder gemeinsam darauf konzentrieren, die Stärken und Talente jedes einzelnen Teammitglieds zum Tragen zu bringen, ist die Chance groß, dass auch wirklich alle ihr Bestes einbringen können – jedenfalls viel größer, als wenn eine einzelne Führungskraft versucht, Arbeit stärkenorientiert zu verteilen. So wird nicht nur die Teamperformance und der Teamzusammenhalt gefördert, sondern auch die individuelle Zufriedenheit. Denn wenig zahlt auf diese mehr ein, als mit den eigenen Talenten zum Erfolg einer Gruppe beizutragen, der man sich zugehörig fühlt.

 

Um ihre Kolleginnen und Kollegen glänzen zu lassen, müssen die Teammitglieder erst einmal wissen, welche Talente in ihnen schlummern. Eine Möglichkeit besteht darin, regelmäßig die eigenen Neigungen und Fähigkeiten im Team vorzustellen. Das kann zum Beispiel spielerisch als „Ability Slam“ erfolgen: Jedes Teammitglied stellt in je zwei Minuten vor, was es besonders gut kann, wofür es brennt und was es gerne einmal ausprobieren möchte. Eine mögliche Variante: Jedes Teammitglied stellt die Stärken eines anderen vor, das es besonders gut kennt. Denn oft sind uns unsere eigenen Stärken gar nicht bewusst bzw. wir registrieren sie nicht, weil sie für uns normal sind. Für beide Varianten gilt: Applaus ist obligatorisch. Der ist nicht nur für Impro-Künstler das Salz in der Suppe, auch Teammitgliedern in Unternehmen tut er gelegentlich gut.

 

 

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