Menschenzentriert verändern

 

Klassische Ansätze organisationaler Veränderung beruhen auf der Vorstellung, dass sich erfolgreicher Wandel erreichen lässt, indem man ihn an der Spitze einer Organisation systematisch plant. Man definiert – meist unter wenig Einbeziehung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – Veränderungsziele. Man analysiert, wie sich diese Ziele effizient erreichen lassen. Man erstellt einen Umsetzungsplan mit vordefinierten Meilensteinen. Und dann hofft man, dass dieser Plan zu einem ebenfalls vordefinierten Schlusspunkt führt.

 

In Bereichen, in denen klare Aufgaben definiert sind und das Marktumfeld relativ stabil ist, kann es tatsächlich funktionieren, Veränderung so in Angriff zu nehmen. In anderen Kontexten werden Veränderungsprozesse dieser Art schnell von der Realität eines volatilen Marktumfeldes überholt, und nicht nur das. Die Planung von oben, bei der Mitarbeitende höchstens in einer späteren Phase des Prozesses einbezogen werden, macht auch blind für das, was unterhalb der sichtbaren Oberfläche der Organisationsstrukturen und -prozesse geschieht.

 

Es ist deshalb eine leidvolle Erfahrung vieler Change-Initiatoren: Wandel ruft oft Widerstand hervor. Die Menschen tragen ihn nicht mit – und eine wesentliche Ursache dafür ist, dass er am tatsächlichen Bedarf der Organisation vorbeigeht. Schlimmstenfalls greift ein Unternehmen unreflektiert einen neuen Trend auf, ohne zu wissen, welches Problem es damit lösen will. Ein typischer Fall ist der Betrieb, in dem die Geschäftsleitung beschließt, dass „alles“ auf „agiles Arbeiten“ umgestellt werden soll. Oder das Unternehmen, in dem die Order ausgegeben wird, dass ab sofort alle Führungskräfte Coachs ihrer Mitarbeitenden sein sollen – wie ich es tatsächlich in einem Beratungsunternehmen erlebt habe. Dass viele Mitarbeitende dort dem Gedanken, einer Führungskraft, die sie beurteilt und von der ihr Gehalt abhängt, einmal monatlich ihr Herz auszuschütten, nicht viel abgewinnen konnten – dass hier also ein Rollenkonflikt bestand – hatte das Unternehmen erstaunlicherweise überhaupt nicht auf dem Zettel.

 

Das Modell „Führungskraft als Coach“ ist natürlich kein schlechtes. Genauso wenig wie das Anliegen, agil zu werden. Oder umweltfreundlicher. Oder kundennäher. Oder effizienter. Oder als Organisation lebendiger. Das Problem ist nur: Viele solcher Veränderungsvorhaben enden letztlich in einem Knowing-Doing-Gap. Das heißt, sie sind zwar an sich sinnvoll, funktionieren jedoch in der Organisation nicht. Und das liegt daran, dass sie nicht aus ihr heraus entwickelt, sondern ihr übergestülpt wurden. Bestenfalls etikettiert die Organisation das Vorhaben dann

irgendwann als „gescheitert“ und stellt es ein. Im schlimmeren Fall hält sie daran fest, verschleudert noch mehr Ressourcen und Energie und setzt das Vertrauen der Mitarbeitenden aufs Spiel. Was aber tun, damit es anders läuft?

 

Design Thinking rückt echte Bedarfe ins Zentrum sozialer Innovation

 

Dass organisationale Entwicklungsprozesse am wirklichen Bedarf des Unternehmens vorbeiorganisiert werden, sollen neue systemische und agile Ansätze verhindern – etwa der agile Innovationsansatz Design Thinking. Design Thinking geht auf unterschiedliche Strömungen zurück. Die Grundidee reicht schon zurück zur Architektur und Raumgestaltung des Bauhauses, mit dem wichtigen Prinzip „Form follows Function“. Vor allem aber waren später Ideen US-amerikanischer Ingenieure und Designer richtungsweisend, die unter hohem Konkurrenzdruck nutzerfreundliche Software und Hardware entwickeln mussten. Sie stellten fest, dass ihre Zunft oft am echten Bedarf der Menschen vorbei designte.

 

Der Ansatz Design Thinking sollte helfen, das zu ändern und zu einer nutzer- ergo also menschenzentrierteren Denk- und Arbeitsweise führen. Nutzerzentriert wird Design Thinking durch verschiedene Aspekte:

  1. Erstens fordert der Ansatz dazu auf, sich tief in das Fühlen und Erleben von Menschen einzudenken und einzufühlen.
  2. Zweitens setzt er ein interdisziplinär zusammengesetztes Team voraus, damit möglichst viele unterschiedliche Perspektiven in einen Entwicklungsprozess einfließen können.
  3. Drittens zahlen die iterativen Testschleifen, die zum Design-Thinking-Prozess gehören, darauf ein, dass eine Neuentwicklung immer wieder mit dem Bedarf der Zielgruppe abgeglichen wird. Das heißt, es gibt Checkpoints, an denen der Stand der Dinge immer wieder analysiert wird: Wo stehen wir jetzt gerade? Macht das, was wir tun, noch Sinn? Entspricht es wirklich dem, was wir wollen und vor allem dem, was gebraucht wird? Gegebenenfalls müssen wir uns dann korrigieren und wieder einen Schritt zurückgehen. Wir gehen also iterativ vor.

Ein weiteres hervorstechendes Merkmal von Design Thinking ist neben dem starken Nutzerfokus und der iterativen Vorgehensweise der Umstand, dass der Ansatz die kreative Seite von Innovationsprozessen mit der analytischen vereint. Als Modell, das dem Entwicklungsprozess eine klare Struktur gibt, fördert Design Thinking auf der einen Seite

Inspiration, Intuition und Empathie. Auf der anderen Seite regt die Methode aber auch zu kritischem Denken und Reflektieren an. All diese Faktoren – insbesondere aber die konsequente Menschenzentriertheit – machen Design Thinking nicht nur zu einem Ansatz, mit dem sich usergerechte Produkte und Dienstleistungsprozesse entwickeln lassen. Sie machen den Ansatz auch zu einer Methodik, die sich hervorragend eignet, um soziale Innovationen – zum Beispiel organisationale Veränderungsprozesse – zu designen, die hinterher auch wirklich zum Unternehmen und dessen Bedarf passen.

 

Mit Design Thinking wird Wandel aus dem System heraus entwickelt Ein wichtiger Punkt, der in Sachen Wandel oft vergessen wird, ist, dass die Realität einer Organisation nicht deckungsgleich mit dem ist, was wir an formalen Strukturen, Prozessen, Regeln, Normen und Werten in ihr beobachten können. Vielmehr spielt sich organisationale Realität weitgehend auf einer nicht direkt beobachtbaren und schon gar nicht steuerbaren Ebene ab. Es ist die Ebene der informalen Ziele und Interessen. Die Ebene der menschlichen Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle. Die Ebene der Gruppendynamiken und die Ebene, auf der ein Unternehmen manchmal gerade deshalb am Laufen gehalten wird, weil die Mitarbeitenden hier formale Regeln und Statuten heimlich, aber höchst kreativ umgehen – ein Phänomen, das Soziologen auch als „brauchbare Illegalität“ bezeichnen.

 

Wenn Wandel wirklich erfolgreich sein soll, dann muss er auch auf dieser Ebene greifen. Genau das gelingt aber nicht mit einem von oben verordneten Change-Plan. Es gelingt nicht mit Veränderungsinitiativen, die wie der Changemanagement-Kompass von Porsche Consulting im 2020 gezeigt hat, im Wesentlichen deswegen scheitern, weil man die Kommunikation mit Betroffenen zu spät oder gar nicht sucht. Es gelingt nur, wenn die Mitarbeitenden von vornherein selbst Gestalter und Gestalterinnen des Wandels sind. Zum Beispiel in einem interdisziplinären Design-Thinking-Team, das mit Angehörigen unterschiedlicher Fachbereiche, Hierarchieebenen und Abteilungen besetzt ist. Bewegt sich so ein Team dann in iterativen Schleifen voran, führt diese Vorgehensweise nahezu automatisch dazu, dass auf dem aufgebaut wird, was im Unternehmen tatsächlich funktioniert, nicht auf dem, was funktionieren soll. Man könnte auch sagen: Wandel wird hier geerdet und auf den Boden des realistisch Machbaren und Brauchbaren zurückgeholt.

 

Auch agiler Wandel funktioniert mit Plan, aber ohne am Plan zu kleben

 

Einen agilen Veränderungsansatz wie Design Thinking zu verfolgen, bedeutet dabei nicht, sich von jeglicher Planungslogik abzuwenden. Tatsächlich gibt es auch im agilen Change-Verständnis Zielgrößen, die definiert werden, weil externe oder interne Herausforderungen (die Digitalisierung, eine veränderte Nachfrage, eine hohe Personalfluktuation im Unternehmen ...) eine Veränderung erforderlich erscheinen lassen. Ein wesentlicher Unterschied zum klassischen Verständnis besteht jedoch darin, dass hier niemand erwartet, dass der Plan zur Zielerreichung bei einem Anliegen wie „Wir wollen innovativer werden“ oder „Wir wollen unsere Kommunikation verbessern“ genau so funktioniert, wie gedacht. Vielmehr geht man davon aus, dass sich nicht alles vorhersehen und beherrschen lässt, dass man ständig dazulernen muss – mitunter auch, dass das Ziel des Veränderungsvorhabens anders definiert werden muss, als ursprünglich gedacht.

 

Wie in Design-Thinking-Prozessen üblich, bewegt man sich auch in einem Design-Thinking- Prozess, der organisationalem Wandel dient, zuerst in mehreren Phasen durch den sogenannten Problemraum, in dem es darum geht, Ausgangslage, Problematik und vor allem menschliche Interessenlagen genau zu verstehen und das Designziel zu formulieren, und dann – ebenfalls in verschiedenen Phasen – durch den Lösungsraum, in dem kreative Ideen entwickelt und erprobt werden. Je nach Design-Thinking-Variante können insgesamt vier bis sieben Phasen definiert werden. Zum Zweck der Entwicklung sozialer Innovationen ist – wie in den meisten Anwendungsfällen – das sechsstufige Modell wie es auch von der School of Design Thinking in Potsdam gelehrt wird, hilfreich.

 

Verstehen der systemischen Zusammenhänge, Ziele, Wirkfaktoren, Barrieren und Risiken

 

Der erste Schritt besteht darin, sich über die Ist-Situation im Unternehmen (oder in einem Team, einer Abteilung, einem Bereich) einen gemeinsamen Überblick zu verschaffen. Wo stehen wir gerade? Welche Organisationsstrukturen und Prozesse gibt es? Welche Werte, Normen, Prinzipien und Regeln leiten uns? Wie verhalten wir uns? Was fühlen wir dabei? Welche Beziehungen bestehen zwischen uns? Was ist unsere Vorgeschichte? Das gemeinsame Reflektieren über den Ist-Zustand bringt allen Beteiligten Klarheit und Einsicht in den Zustand der Organisation (oder der jeweiligen organisationalen Einheit), einschließlich erster Hinweise auf Entwicklungsmöglichkeiten und -grenzen.

 

Nehmen wir das Beispiel des Unternehmens, das meint, an seiner Führungskultur arbeiten zu müssen und daher auf das Konzept der „Führungskraft als Coach“ setzen will. Ein Design-Thinking-Prozess könnte hier dabei helfen, zunächst einen Schritt zurückzutreten und zu erfassen, worum es eigentlich geht, welches Problem eigentlich gelöst werden soll. Hier kann grundsätzlich eine breite Palette analytischer Methoden zur Anwendung kommen, etwa: Stakeholder-Analysen, die Auswertung von Extremsituationen, semantische Analysen, die Auswertung von Mitarbeitendenbefragungen, von Daten zu Krankenständen, zur Fluktuation, zur Produktivitätsentwicklung ... In unserem Beispielfall ergibt sich so womöglich das Bild einer Organisation, in der sich eine sehr hohe Fluktuation (insbesondere High Potentials scheinen nur schwer im Unternehmen zu halten zu sein) mit negativen Ergebnissen von Mitarbeitendenbefragungen in puncto Entwicklungsmöglichkeiten, Feedbackkultur und Führungsqualität paart.

 

In der Verstehensphase kann auch die Anfertigung einer Stakeholder Map sinnvoll sein: Darin wird festgehalten, wer in welcher Weise von der Thematik (Mitarbeitende fühlen sich unzureichend unterstützt und gefördert) betroffen ist, welche Ziele, Bedürfnisse, Ängste und Pain Points die jeweiligen Betroffenen haben, wie sie zur Problemlösung beitragen und auch, inwiefern sie der Problemlösung entgegenwirken könnten. Hier geht es zunächst darum, erste Hypothesen zu entwickeln. Um ein tieferes Verständnis zu bekommen, müssen wir jedoch noch genauer verstehen, wo der Schuh aus der Sicht der verschiedenen Stakeholder drückt. Deswegen steigen wir in der folgenden Phase noch tiefer in die Analyse ein, indem wir versuchen, uns gezielt in die Stakeholder einzudenken und vor allem einzufühlen.

 

Empathie für die beteiligten Menschen und Stakeholder-Gruppen

 

Wie kann dieses tiefe Eindenken und Einfühlen gelingen? Eine Möglichkeit sind Interviews, am besten solche, in denen man möglichst offene Fragen stellt. Man befragt Stakeholder zu deren Erfahrungen, ihrer Sicht der Dinge, ihren Gefühlen und Bedürfnissen. Man kann in der Phase des empathischen Verstehens auch Feldforschung betreiben und Teamsituationen, Führungsgespräche, Meetings oder Pausengespräche beobachten.

 

Weil es in der Phase „Empathie“ darum geht, jene Barrieren und Blockaden im System zu erkennen und zu erspüren, die einer rein faktischen Analyse nicht zugänglich sind, kommen in der Empathie-Phase des Design-Thinking-Prozesses aber auch noch andere Methoden zur Anwendung. Da die Mitglieder des Design-Thinking-Teams im Fall organisationaler Weiterentwicklung selbst Mitglieder der Organisation – und ergo Betroffene – sind, können und sollten sie auch in sich selbst hineinhorchen und ihre eigenen Gedanken und Gefühle erspüren. Sie können im Team auch mithilfe von Rollenspielen und Aufstellungen versuchen, sich in die Position der verschiedenen Stakeholder zu versetzen, um nachzuspüren, was diese empfinden. Sie können – um der Anwesenheit der Organisation als solcher Rechnung zu tragen – ebenso einen leeren Stuhl im Raum platzieren, auf den sich ein Teammitglied immer dann setzt, wenn es etwas im Namen der Organisation sagen möchte.

 

Zurück zum Beispielfall: Hier gewinnt das Design-Thinking-Team in der Empathie-Phase schon früh einen Eindruck davon, dass die Mitarbeitenden im Unternehmen tatsächlich darunter leiden, in ihrer Entwicklung nicht ausreichend unterstützt zu werden, dass ein Konzept wie „die Führungskraft als Coach“ (zumindest ohne Anpassung) im Unternehmen aber trotzdem nicht funktionieren würde. Denn in den Gesprächen kommen Bedenken zum Ausdruck. Und in einer Aufstellung spüren die Teammitglieder am eigenen Leib, wie mies es sich anfühlen kann, dazu gezwungen zu sein, sich einer Führungskraft zu öffnen, die einen gleichzeitig beurteilt. Oder auch, wie schlecht es sich anfühlt, sich als Führungskraft gar nicht in der Lage zu sehen, Mitarbeitende ohne ausreichende Qualifizierung von jetzt auf gleich coachen zu können. Gleichzeitig gewinnt das Team aber auch einen Eindruck davon, dass die Menschen im Unternehmen von einem Ansatz wie der „Führungskraft als Coach“ durchaus profitieren könnten – wenn er denn anders ausgestaltet wäre.

 

Formulieren einer Design Challenge

 

Nachdem in den ersten beiden Phasen der Ist-Zustand analysiert und erspürt worden ist, geht es in der dritten Phase darum, die Ergebnisse in einer Synthese zusammenfließen zu lassen und daraus einen Ziel-Zustand abzuleiten, also die eigentliche Design Challenge zu formulieren. Am besten geschieht dies in Form einer WM-Frage. WM steht für „Welche Möglichkeiten haben wir ...?“ Also: Welche Möglichkeiten haben wir, das Problem der User zu lösen? Welche Möglichkeiten haben wir, das anvisierte Ziel zu erreichen? Welche Möglichkeiten haben wir, etwas völlig Neues zu schaffen?

 

Mit der WM-Frage lässt sich die Herausforderung fokussieren und gleichzeitig neu einrahmen. Wichtig ist, dass die Frage positiv formuliert und offen gestellt ist, allerdings nicht zu offen, damit der Interpretationsspielraum nicht ausufert. Die Frage sollte deswegen so konkret wie möglich sein. In unserem Beispielfall könnte sie lauten: „Welche Möglichkeiten haben wir, einen sicheren Rahmen schaffen, in dem sich Mitarbeitende in ihrer Entwicklung gut unterstützt fühlen?“ – „Welche Möglichkeiten haben wir, die Mitarbeiterzufriedenheit zu steigern?“, wäre dagegen beispielsweise zu unkonkret. Der Zweck dieser Phase ist es, ein Spannungsfeld zwischen der Gegenwart und möglichen Zukünften aufzubauen, einen Innovationsraum aufzumachen, in dem sich in der nächsten Phase kreative Energien entladen können.

 

Die Ideen- und Kreativitätsphase

 

In der nun folgenden Phase geht es darum, Ideen zu sammeln. Die Grundregel dabei lautet: Jede, wirklich jede Idee ist erlaubt. Es geht zunächst einmal nicht um Klasse, sondern um Masse. Um der Kreativität auf die Sprünge zu helfen, kann hier die gesamte Bandbreite an Brainstorming- und Kreativitätstechniken zum Einsatz kommen. Also alles, was hilft, eingefahrene Denkschienen zu verlassen und auch ungewöhnliche Antworten auf die Design Challenge zu finden. Möglichst unbelastet von Bedenken, soll mit Möglichkeiten jongliert werden.

 

Helfen kann dabei beispielsweise die Kreativitätstechnik, das Problem auf den Kopf zu stellen und zu fragen: Was müssen wir tun, damit noch mehr Mitarbeitende das Gefühl haben, im Unternehmen alleingelassen zu werden? Wie wird die Feedbackkultur noch schlechter? Oder, um speziell die Hypothese zu prüfen, dass Führungskräfte als Coach agieren sollten: „Was müssen wir tun, um dieses Konzept komplett an die Wand zu fahren?“ Umgekehrt kann es auch zu guten neuen Ideen anregen, wenn man so tut, als sei der erwünschte Zielzustand schon erreicht: Man fühlt sich dann in ihn ein und leitet daraus ab, welche Kriterien dafür erfüllt sein müssen.

 

Auf diese Art können auf Entwicklungsfragen („Was können wir tun, um unsere Kommunikation zu verbessern?“, „Wie können wir zu einem neuen, entwicklungsorientierten Führungsstil gelangen?“) sehr vielfältige Antworten gefunden werden. So könnten in unserem Beispielfall – jenseits des Konzepts der Führungskraft als Coach – auch noch ganz andere Ideen formuliert werden. Etwa die Idee, eine interne Beratungsstelle einzurichten, an die sich die Mitarbeitenden im Bedarfsfall wenden können. Oder die Möglichkeit, einen externen Pool von Coachs zu nutzen. Und sollte sich in den ersten beiden Design-Thinking-Phasen herausgestellt haben, dass außer der Führung auch noch andere Faktoren im Unternehmen – etwa veraltete Karriereprozesse – ein Hemmschuh für die Entwicklung der Mitarbeitenden sind, dann könnten auch dazu Ideen formuliert werden.

 

Entscheidet sich das Team bei der anschließenden Selektion der Ideen aber für das Konzept Führungskraft als Coach, kann es dieses nun unter Rückgriff auf die in den ersten, analytischen Phasen des Prozesses gewonnenen Erkenntnisse so ausgestalten, dass es zur Organisation und ihrem Bedarf passt. Zum Beispiel: Coachinggespräche mit Führungskräften finden nur freiwillig statt, also wenn Mitarbeitende dies wollen und ein eigenes Anliegen haben. Oder: Mitarbeitende müssen sich nicht von ihrer direkten Führungskraft coachen lassen, sondern können sich ihren Wunsch-Coach aus einem Kreis entsprechend weitergebildeter Führungskräfte aussuchen. Oder: Die Führungskräfte werden sämtlich in achtsamem Zuhören und gewaltfreier Kommunikation ausgebildet, damit sich – jenseits des Coachingansatzes –

insgesamt die Führungsqualität verbessert. Oder auch: Führung wird im Unternehmen grundsätzlich neu organisiert, sodass es künftig zwei Führungsrollen gibt – eine coachende, entwicklungsorientierte und eine fachliche, disziplinarische ...

 

Das Prototyping des neuen Zustandes

 

Im folgenden Schritt des Prototyping werden die ausgewählten besten Ideen konkretisiert und zunächst modellhaft umgesetzt. Das kann auf verschiedenen Wegen passieren, etwa durch die Gestaltung eines Storyboards, durch Rollenspiele oder Aufstellungen. Das Prototyping einer neuer Organisationskultur oder Strategie könnte beispielsweise so aussehen: Ein Image-Video wird mit der Handy-Kamera aufgenommen und dann einigen wohlgesonnenen Kollegen gezeigt. Ein Raum wird entsprechend der neuen Kultur eingerichtet, zum Beispiel für mehr persönlichen Austausch und die Entwicklung kreativer Ideen. Ein einfaches digitales Tool wird bereitgestellt, um einen Kommunikationsprozess abzubilden. Ein Beteiligungsprozess wird auf einem Poster schematisch dargestellt und über ein Umfrage-Tool umgesetzt.

 

Der Vorteil eines solchen Prototyping besteht darin, dass man damit mehr neuronale Netzwerke aktiviert, als wenn man über das Lösungsmodell nur sprechen würde. Man gelangt automatisch in einen tieferen Verstehens- und Gestaltungsprozess. Außerdem hat die Erstellung eines Prototyps den Vorteil, dass sich auch Personen, die nicht direkt am Design-Thinking-Prozess beteiligt waren und denen die Idee nun präsentiert wird, in sie einfühlen können, weil die Idee plastisch und anschaulich verarbeitet wird. Organisationsentwicklung wird so unmittelbar erfahrbar.

 

Testen, iterieren und verfeinern

 

Am Ende des Prozesses werden die vielversprechendsten Prototypen in der Praxis ausprobiert. Erst wenn dieses experimentelle Testen erfolgreich verläuft, wird die Neuerung im Unternehmen implementiert. Man sollte beim Testen möglichst klein anfangen. In unserem Beispielfall könnte das Unternehmen beispielsweise das neu entwickelte Führungsmodell, das eine Trennung der Führungsrollen vorsieht, zunächst in einer einzelnen Abteilung oder einem einzelnen Team ausprobieren. Oder es könnte die Führungskräfte eines Teams in aktivem Zuhören und Gewaltfreier Kommunikation schulen und dann über einen längeren Zeitpunkt beobachten, wie sich die Mitarbeiterzufriedenheit, die Fluktuationsrate und andere Parameter in dem Team im Vergleich zu anderen Teams, deren Führungskräfte nicht geschult wurden, entwickeln.

 

Wichtig ist auch, immer wieder Feedback von den Beteiligten einzuholen und dieses in Verbesserungen einfließen zu lassen. Womöglich braucht es in Bezug auf bestimmte Punkte dann nochmals einen kleinerenergänzenden Design-Thinking-Prozess, in dem analysiert wird, warum etwas nicht funktioniert und was die Menschen stattdessen bräuchten.

 

Die Kunst beim Testen besteht auch darin, nicht zu nerven: Niemand sollte sich als Versuchskaninchen missbraucht fühlen. Deswegen ist es vorteilhaft, probeweise mit jenen zu beginnen, die besonders offen für den Veränderungsversuch sind. Was sich bei ihnen bewährt, wird in der Regel weitergetragen. Doch ist es in der Testphase ebenso wichtig, ein Scheitern des Modells grundsätzlich zuzulassen. Scheitern ist wertvoll, weil es zeigt, wo die Schwächen in der Praxis liegen, an denen man dann weiter arbeiten kann. Dafür ist die Iteration im Design Thinking ja gerade so relevant, also die Bereitschaft, jederzeit auch wieder in die Verstehens- und Ideenentwicklungsphase zurückzuspringen. Auch wenn das Verfahren aufwendig erscheint, wichtig ist: Je mehr getestet und iteriert wird, desto besser wird sich das Ergebnis hinterher in die bestehenden Strukturen und die Kultur einfügen. 

 

 

Photo by Joel Muniz on Unsplash

 

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