Boris Reitschuster, früher Moskau Korrespondent des FOCUS, berichtet von einem Besuch in der Stadt, die sprichwörtlich für Größte anzunehmende Unfälle (GAUs) wurde:
"Vor 20 Jahren war ich in Tschernobyl. Für eine Reportage zum 15. Jahrestag der Reaktorkatastrophe dort besuchte ich das Kernkraftwerk und ging sogar in den Unglücksreaktor. Was ich dort erlebt habe, werde ich nie vergessen. Die Eindrücke waren umso stärker, als mein Fotograf und Freund Igor, der mich begleitete, nach dem Unglück 1986 einer der ersten Fotografen gewesen war, die zum Unglücksreaktor hatten vordringen können. Ich war in der Geisterstadt Prypjat, wo im ehemaligen Kindergarten noch die Puppen lagen, und ich besuchte den Direktor des Unglücksreaktors zu Hause, der zehn Jahre im Gefängnis hatte absitzen müssen.
Bei uns gilt Tschernobyl nur als ein Menetekel für die Atomkraft. Aber es war auch ein Menetekel für ein vollkommen unfähiges, von der Realität abgekoppeltes System. So hatte es bereits in einem anderen Kernkraftwerk der gleichen Bauart Erfahrungen gegeben, die hätten helfen können, die Katastrophe von Tschernobyl zu verhindern. Der KGB zensierte diese Informationen jedoch, und so gelangten sie nie zu den Verantwortlichen in Tschernobyl. Deshalb waren diese mit der Situation am 26. April 1986 völlig überfordert und konnten die Katastrophe nicht aufhalten. Letztendlich wurde der Super-GAU zum letzten Sargnagel der Sowjetunion. Er beschleunigte ihren Zerfall. Er machte ihre Unfähigkeit zum Überleben allzu offensichtlich."
Diese Beobachtung erinnert mich an so manches Unternehmen, das ich in den letzten Jahren und Jahrzehnten kennen lernen durfte. Da werden Informationen gehandelt, als wären es mit Uran angereicherte Splitterbomben. Sogar intern. Sogar dann, wenn der mangelnde Austausch von Informationen das Unternehmen unmittelbar siebenstellige und höhere Beträge kostet.
Dass interne Schnittstellenkombination nicht so funktioniert, wie sie funktionieren müsste, ist in den meisten Unternehmen eine ebenso bekannte wie wenig diskutierte oder gar problematisierte Tatsache. Da kommen Produktionsprozesse in Gang und laufen schon mal anderthalb Jahre, bevor die Lieferungen fakturiert werden. An anderen Stellen werden Probleme nicht transparent dargestellt, weil das unbequem werden könnte. Und offene oder gar radikal ehrliche Kommunikation (Radical Honesty) wird ohnehin gefürchtet wie der Teufel das berühmte Weihwasser meidet.
Von externer Unternehmenskommunikation möchte ich gar nicht erst anfangen. Da tun sich Unternehmen selten rühmlich hervor - vor allem, wenn es um eigene Defizite geht. Manchmal überlebt man das nur ganz knapp (Nike) oder hat derart begehrte Produkte, das ein aufdecken unguter Produktionsbedingungen scheinbar an dem betreffenden Unternehmen vorbei geht (Apple).
Was braucht es? Dringend eine Kultur des Information Sharing! Das bedeutet nicht einfach offene Unternehmenskommunikation! Es bedeutet eine proaktive Einstellung zum Thema Information. Es bedeutet, dass sich - hochrangig! - im Unternehmen Stabsstellen nur damit beschäftigen, welche Informationen jetzt PROAKTIV weitergegeben werden. Intern wie extern. Gegenüber Mitarbeitern, Lieferanten und vor allem Kunden.
Ich behaupte, dass diese Vorgehensweise in Zukunft für Unternehmen überlebenswichtig werden wird. Wie vermittle ich SINN, intern wie extern? Wie vermittle ich den Nutzen meiner Abteilung, meines Services, meiner Firma? Wie werde ich sichtbar in der Unternehmenswelt und darüber hinaus? Wie kommuniziere ich ANDERS? So, dass mir zugehört wird? Mit dem WOW - Effekt: Schau mal, wie offen die sind! Die reden sogar von Fehlern! Und von sich! Sie TEILEN. Und nicht zuletzt sogar Informationen, die ich weitergebe, damit sie ALLEN (Gesellschaften, Individuen, Körperschaften aller Art) von hohem Nutzen sind. Ohne Geld, ohne (offensichtliches) Eigeninteresse. Einfach nur so.
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